Marianne Faithfull Negative Capability, BMG, 2018 |
Marianne Faithfull | Vocals | |||
Nick Cave | Piano, Vocals | |||
Warren Ellis | Violin | |||
Ed Harcourt | Piano | |||
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01. Misunderstanding | 06. Witches Song | |||
02. Gypsy Fairy Queen | 07. It's All Over Now, Baby Blue | |||
03. As Tears Go By | 08. They Come At Night | |||
04. In My Own Particular Way | 09. Don't Go | |||
05. Born To Live | 10. No Moon In Paris | |||
“Negative Capability" bedeutet, dass der Mensch mit dem Ungewissen leben kann. Mysterien und Zweifel, ohne dass man nach Fakten und Vernunft verlangt” (John Keats, britischer Dichter))
Verfügt Marianne Faithfull, die Grande Dame aus Großbritannien, über diese Fähigkeit? Altersweise, gelassen, aufgeräumt und dennoch immer mit einem Schuss Verzweiflung und einer bittersüßen Dosis Melancholie durchlebt die Wahl-Pariserin ihr inzwischen einundzwanzigstes Album.
Seit Mitte der Sechziger Jahre, als der ROLLING STONES Manager Andrew Loog Oldham die süße 16-jährige auf einer Party entdeckte und ihr Mick Jaggers Küchenkomposition As Tears Go By überstülpte, wandert die aparte Madame Faithfull durch die Wellentäler der Ereignisse und Gefühle. Nach Drogenexzessen und Magersuchtepisoden etablierte das gewaltige Comeback-Album "Broken English" (1979) die Faithfull dann endlich als ernstzunehmende Künstlerin.
Ihr verzweifeltes "What are we fighting for?" singt sie heutzutage sicher aus einer anderen Perspektive und beschäftigt sich stattdessen mit ihrem eindringlichen Rückblick auf ein nicht immer glorreiches Leben.
In Paris hat die Dame mit dem hübschen Gesicht längst ihren Frieden gefunden. Deshalb singt sie ihren 1964er Trademark Song As Tears Go By heutzutage auch mit einem anderen Selbstverständnis und überzeugt auch mit dieser brandneuen, absolut akustischen Version. Ihre raue Stimme klingt noch verwitterter als zuletzt. Ähnlich einem rissigen Felsen, dem durch jahrzehntelangen Sturmwind die eine oder andere Ecke abbröckelt.
Nach eingehendem Hören darf man das stimmungsvolle "Negative Capability" wohl zu dem Herbstalbum des Jahres 2018 ausrufen. Akustisch, besonnen, nachdenklich, melancholisch, ruhig bis böig. Wunderbar instrumentierte, feine Songs, die einen packen. Piano, Akustikgitarre, Streicher, Flöte bestimmen die Szenerie. Und dann diese eindringliche, unverstellte Stimme. Ehrlich und offen. Klingt beinahe wie der weibliche Gegenentwurf zu Leonard Cohen (RIP). Faithfulls Bruder im Geiste Nick Cave hat übrigens beim Komponieren und Singen geholfen. Prima. In Faithfulls Händen entwickelt sich selbst ein abgenudelter Klassiker wie Dylans It's All Over Now, Baby Blue zu einem kleinen, unerwarteten Geschenk.
Ein ganz wunderbares, intimes Singer-Songwriter Album, das den Hörer zärtlich einwickelt, während draußen die Herbststürme um die Häuserwände zischen. Solange der Ofen prasselt und der rubinrote Wein im Glas schimmert ergeben wir uns alle dieser gefühligen Dreiviertelstunde "Negative Capability".