Es gab sicher zuvor schon Bücher, die sich mit THE WHO, Pete Townshend und “Tommy“ beschäftigt haben, aber so eingehend, hat sich der “Rock-Oper“, meines Wissens, noch keine Publikation gewidmet.
Beim Jahr 1969 denkt die Musikwelt im Allgemeinen zunächst an “Woodstock“. Tatsächlich hat sich vor 50 Jahren weit mehr zugetragen und rückblickend scheint es fast, als hätten sich die bahnbrechenden Ereignisse die Klinke in die Hand gegeben. Die BEATLES veröffentlichten “Abbey Road“, THE KINKS “Arthur“, die ROLLING STONES stürzten in Altamont in ein Tief und vieles mehr trug sich zu.
Von der Strahlkraft her, die in die folgenden Jahrzehnte reichte, gehört THE WHOs “Tommy“ ohne Zweifel auf die ganz vorderen Plätze. Wenn nicht gar an die Spitze. Allein schon die Tatsache, dass es ein Studio-Doppelalbum war, erregte Aufsehen. Ja, die BEATLES hatten mit dem “White Album“ ein Jahr zuvor eine Doppel-LP veröffentlicht, ebenso CREAM, aber bei letzteren war die Hälfte ein Live-Album und die Fab Four waren da seit Jahren Superstars, während Townshend und Co. gerade mal ihr viertes Album an den Start brachten und mehr mit ihren Singles – und natürlich ihr energiegeladenen Live-Performances - überzeugt hatten, denn mit ihren Albenveröffentlichungen.
In ihrem Buch widmen sich Chris Charlesworth und Mike McInnerney akribisch, fast schon leidenschaftlich, “Stil, Zeitgeist, Musik und Vermächtnis der legendären Rockoper von THE WHO“ (so der Buch-Untertitel). Offenbar so ansprechend, dass Peter Townshend selbst das Vorwort beigesteuert hat. Also sozusagen von höchster Stelle abgesegnet.
Wie Charlesworth und McInnerney ganz richtig erkannten, braucht es viel mehr um sich das Phänomen “Tommy“ zu erschließen, als nur die Musik auf der Platte zu betrachten. Entsprechend bekommt mit diesem Buch eigentlich eine Geschichte der Band geliefert UND, natürlich, die Entstehungs- und Umsetzungsgeschichte des legendären Albums.
Im Kapitel “Zeitgeist“ bereitet uns Mike McInnerney sozusagen für das Kommende vor. Lässt uns eintauchen in die frühe 1960er Jahre und damit in die Anfänge von THE WHO. Oder den HIGH NUMBERS. Oder den DETOURS.
Bereits in diesem ersten Kapitel fallen mir – und ich bin seit Jahrzehnten Fan der Band – die vielen bisher nicht oder kaum gesehenen Bilder auf. Frühe Promobilder der Band – z.B. als THE DETOURS und noch meilenweit vom späteren Rockstar-Outfit entfernt – und private Aufnahmen aus Townshends Apartment, zusammen mit Memorabilia und anderen zeitgenössischen Aufnahmen, öffnen uns “eine andere Welt“.
Natürlich wird der Einfluss von Meher Baba, Petes Guru, entsprechend gewürdigt und auch die grundsätzliche Änderung des Blickes auf unseren Planeten, zumindest bei vielen Menschen, kommt zur Sprache.
In “Die Musik“ widmet sich Chris Charlesworth dann ausgiebig allem, was vor, während und nach “Tommy“ musikalisch von Betracht ist. Etwa die Vorläufer von “Tommy“. Nicht nur was A Quick One angeht, sondern auch, wo in den Songs auf “The Who Sell Out“ schon Anzeichen zu finden sind.
Oft in Artikeln angerissen, wird bei “Die Wurzeln des Scoop-Projektes“ eingehender auf Pete Townshends Song- und Sound-Tüftelei im heimischen Studio eingegangen und man lernt hier ebenso einiges hinzu (auch als langjähriger Anhänger der Band), wie über die Konzeption der Story um den “Deaf, Dumb and Blind“-Boy. Auch da gab es durchaus verschiedene Ansätze und Änderungen in letzter Minute.
Allein die Tatsache, das Mike McInnerney, wie Townshend, Anhänger von Meher Baba war und von Pete gebeten wurde das Artwork für die Doppel-LP zu übernehmen lässt ahnen, dass hier “aus dem Nähkästchen“ geplaudert wird,
Dem reinen Musikfan kann es sogar kurzzeitig zu wissenschaftlich werden, wenn “Auf den Sinnen basiertes Wissen“ einfließt, aber, keine Sorge, wir sind schnell zurück bei der Musik. Und einem Großteil dessen, was sich nach der Veröffentlichung des Albums noch tat. Den “Konkurrenzalben“ von den KINKS, den PRETTY THINGS oder THE MOODY BLUES. Dem Weg zu “Quadrophenia“ und natürlich der Präsentation von “Tommy“ auf Bühne und Leinwand und wie sich die Geschichte des taubstummen und blinden Jungen bis in die aktuelle Zeit der Band fortsetzt.
Alles in allem: Wer sich jemals eingehend mit dem Doppelalbum und der Band beschäftigt hat und dies gern noch etwas vertiefen möchte, der ist hier an der richtigen Stelle, um – um mal eine Metapher zu verwenden – den Spiegel zu zertrümmern und auf die andere Seite zu blicken.